Ägyptische Baugruppe
An der Elisabeth Avenue, gegenüber dem Pavillon des Österreichisch-Ungarischen Lloyd befand sich eines der imposantesten architektonischen Objekte der gesamten Weltausstellung: die ägyptische Baugruppe. Sie überragte nicht nur alle anderen Anlagen des sog. orientalischen Viertels, sondern auch die meisten Pavillons auf dem Expositionsgelände. Die Teilnahme Ägyptens war in erster Linie dem diplomatischen Geschick des österreichischen Generalkonsuls in Istanbul und Leiters der Orientabteilung der Wiener Weltausstellung, Hofrat Joseph Freiherr von Schwegel zu verdanken. Die Präsenz des formal noch zum osmanischen Reich gehörenden Landes lag aber selbstredend auch im Interesse des Khediven (Vizekönigs) Ismail Pascha, der das Großereignis nicht nur für die Vertiefung wirtschaftlicher und kultureller Kontakte mit dem Westen, sondern auch als eine willkommene Möglichkeit der Demonstration seiner Unabhängigkeitsbestrebungen nutzte und finanziell großzügig unterstützte. Zum Kommissär wurde der Ägyptologe und deutsche Konsul in Kairo Dr. Heinrich Brugsch ernannt, mit der Planung der Baugruppe der Architekt Franz Schmoranz betraut.
Der von Schmoranz errichtete zweigeschossige Gesamtbau bestand aus drei größeren, durch Innenhöfe voneinander getrennten Objekten: der Moschee, dem Hauptgebäude und dem ägyptischen Bauernhaus. Großes Interesse erweckten aber auch die Nachbildung eines altägyptischen Felsengrabes aus Beni Hasan sowie der neben dem Hauptgebäude befindliche Basar mit Läden und Magazinen, in denen Handwerker diverse kleinere Waren herstellten und verkauften. Ein ursprünglich projektiertes Volksbad wurde schließlich nicht umgesetzt.
Die Moschee befand sich im westlichen Teil der Anlage. Sie hatte ein prachtvolles, gelb gefärbtes, mit Arabesken geschmücktes Kuppeldach aus Zink, neben ihr erhob sich ein graziös anmutendes Minarett. Das Innere schmückten Wandmalereien, herabhängende farbige Glaslampen sowie Teppiche. Allerdings fehlte die Kanzel für den Imam sowie die Kebla, ein Schrank zur Aufbewahrung des Korans. Den größten Teil des Komplexes nahm das palastartige Hauptgebäude, das über zahlreiche Räumlichkeiten verfügte, ein. Das sog. Mandarah (Herrenempfangszimmer) des Khediven – der letzten Endes doch nicht nach Wien kam – sowie die weiteren für ihn reservierten Zimmer glänzten durch die dekorative Pracht der dort ausgestellten Möbel, Teppiche, Decken und Goldbrokatstoffe. Der übrige Teil des Wohnhauses, mit seinen gelb bemalten, nackten Wänden, schien, zumindest für orientalische Verhältnisse, ungewöhnlich glanzlos. Lediglich die Arabesken an den Plafonds sowie der von einem Eunuchen bewachte Harem und das Kaab, ein separates Empfangszimmer für die Damen, dürften die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich gezogen haben. Im Hauptgebäude gab es des Weiteren eine Volksschule sowie ein Kaffeehaus, in dem ein Panoramabild Kairos, das Aussicht auf die Pyramiden sowie auf dem Nil bot, ausgestellt war – eine Arbeit des Hoftheatermalers Jan Kautsky. In das ägyptische Bauernhaus gelangte man durch einen Hofraum. Hier befanden sich mond- bzw. sternenförmig angelegte, das ägyptische Wappen darstellende Blumenbeete sowie ein Brunnen. Das geräumige, der Wohnung eines Ortsvorstehers nachempfundene Bauernhaus erweckte einen eher düsteren, grauen Eindruck. Das Erdgeschoß umfasste Vorratskammern sowie Stallungen für Esel, Kühe und Kamele. Im oberen Stockwerk befand sich die eigentliche Wohnung, überragt von einem mit einer Kuppel versehenen Turm.
Obwohl Schmoranz durch die Verbindung unterschiedlicher Bauweisen, Elemente, Themen und Motive ein eklektisches Bauwerk geschaffen hatte, das es in dieser Form im Orient wohl nicht gab, gelang es ihm, dem Gesamtkomplex ein orientalisches Flair zu verleihen. Der harmonischen Farbgestaltung der Außenwände, der Ausgewogenheit der geometrischen Formen, den Balkons und den kastenartig vortretenden verglasten, vergitterten Fenstern konnte sich wohl – mit Ausnahme strenger Kunsthistoriker – kaum jemand entziehen. Selbst der Kaiser zeigte sich beeindruckt und war mehrmals zu Gast im Palast des Vizekönigs. Wien lag im Orientfieber und freute sich, so die Leipziger Illustrirte Zeitung, über eine architektonische Perle in der „ermüdenden Gleichförmigkeit“ der von modernen Ausstellungshallen bestimmten Umgebung.
– ázb –